Andres Kamlah

Die Anschaulichkeit der hyperbolischen Geometrie

1. Was haben die Anschaulichkeit der nichteuklidischen Geometrie und Einsteins Relativitätstheorie miteinander zu tun?

Als Einstein 1905 seine spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte, erregte diese zunächst kaum Aufsehen. Etwa zehn Jahre später während des ersten Weltkrieges kam die allgemeine Relativitätstheorie heraus und im November 1918 gab es in Deutschland eine Revolution. Von da ab war Einstein in aller Munde, seine Theorien wurden in der breiten Öffentlichkeit diskutiert und es erschienen Hunderte von Schriften pro und kontra Einstein. Es gab sogar ein Buch mit dem Titel Hundert Autoren gegen Einstein. Die Menschen hatten den Zusammen­bruch der alten politischen Ordnung erlebt. Aber es war noch mehr zusammengebrochen als nur die Organisation des Staates. Nach der Revolution musste z. B. mein Großvater, der Pfarrer war, in der Kirche seines Dorfes vor ein paar alten Frauen predigen, während vorher selbst­ver­ständlich Sonntags alle Einwohner zur Kirche gingen.

Was geschehen war, möchte ich an einem bekannten Ausspruch Kants erläutern, der auch als Inschrift auf seinem Grabe steht:

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. ... ... Ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.“

Der „gestirnte Himmel über mir“, ist für Kant das Naturgesetz, das in Anschauung und Ver­stand beheimatet ist. Parallel dazu spricht Kant vom „moralische[n] Gesetz in mir“. Das eine ist ein  Indiz dafür, dass es das andere gibt. Einstein behauptet nun, dass es den „gestirnte[n] Himmel über mir“, so wie das Kant sich gedacht hatte, die vor aller Erfahrung gültigen Natur­gesetze, nicht gibt. Ist also damit auch das „moralische Gesetz in mir“ in Gefahr? Sicherlich gibt es keinen zwingenden logischen Zusammenhang zwischen den beiden. Aber die Men­schen denken eben oft in Analogien und neigen dazu, einen solchen Zusammenhang her­zu­stellen. Das taten nicht nur die vielen Menschen, welche die moralische Ordnung bedroht sahen, sondern auch manche Maler und Komponisten, welche die alten Gesetze der Ästhetik verwarfen und daher Einstein als Bundesgenossen betrachteten. Sie waren von sich aus dazu gekommen, neue Wege zu gehen, und fühlten sich durch Einstein darin bestätigt.

Doch bei der Mehrzahl der Zeitgenossen lösten Einsteins Ideen eher Ängste aus und das trug zum allgemeinen reaktionären Trend bei, der schließlich zur Machtergreifung der Nazis führ­te. Heute leben wir potentiell in einer noch viel größeren Unsicherheit als die Menschen da­mals. Wir erschrecken aber nicht mehr vor der modernen Physik. Vielleicht kann es aber den­noch zur Aufarbeitung unterschwelliger Ängste dienen, wenn wir uns vor Augen führen, wie Kants Weltbild der Natur notwendigerweise zusammenbrechen musste und dass dieser Zu­sam­­men­bruch immerhin keine Katastrophe war.

Es geht hier also um mehr als um Einstein und seine Theorien. Es geht um die Verständlich­keit der Welt, in der wir leben, und an der wir uns erfreuen sollten.

Beginnen wir wieder mit Kants „gestirnten Himmel“. Im 18. Jahrhundert versuchten viele Mathematiker das Parallelenaxiom Euklids zu beweisen. Dieses Axiom sagt im wesentlichen folgendes aus:

Zwei Geraden g1 und g2 in einer Ebene, die eine dritte Gerade g unter verschiedenen (Wechsel-)Winkeln schneiden, müssen auch miteinander einen Schnittpunkt haben:

(Abb. 1)

Das Axiom ist unter der Voraussetzung der übrigen Axiome der euklidischen Geometrie mit dem Satz äquivalent:

Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 1800.

Es zeichnete sich bereits ab, dass das vielleicht nicht möglich sein würde. Ich will hier nicht auf die historischen Details eingehen. Mir kommt es nur darauf an, dass Kant zunächst eine Lösung bietet, die das Problem umgeht. Er trennte scharf zwischen „Anschauung“ und „Be­griff“. Wir können mit der Logik begriffliche Ableitungen vollziehen. Aber die Mathematik beruht für Kant auch auf der Anschauung. Wir lesen einem Dreieck, das wir aufs Papier gezeich­net haben, eben so etliche Eigenschaften ab, nicht weil die Erfahrung uns dieses lehrt, sondern weil uns unser Anschauungsvermögen uns zwingt, die Dinge eben so zu sehen, eben jenes Gesetz, dass wir mit uns herumtragen, der Filter, durch den die Empfindungen hindurch müssen, um Wahrnehmungen zu werden.

Die Mathematiker hat das nicht davon abgehalten, weiter nach einem Beweis des Parallelen­axioms zu suchen und schließlich den Spieß umzudrehen und seine Unbeweisbarkeit zu zei­gen. Man nahm eben einfach an, dass es falsch ist und prüfte dabei die Konsequenzen. So entstand die „Nichteuklidische Geometrie“ von Bolyai und unabhängig davon von Loba­tschewski, die wir heute die hyperbolische Geometrie nennen. Bekanntlich hat Gauß diese Entdeckungen sogar schon früher gemacht, aber nicht veröffentlicht.

Die Philosophen hat das nicht weiter beunruhigt. Sie konnten eben darauf hinweisen, dass man das fünfte Postulat Euklids, das Parallelenaxiom, eben gar nicht beweisen muß, weil es anschaulich evident ist. Damit waren die Theorien von Bolyai und Lobatschewski eben nur rein logische Spielereien ohne wirkliches Interesse für die Praxis oder die Naturwissen­schaft. Denn die nicht-euklidischen Figuren ihrer Geometrie konnte man sich ja gar nicht vor­stellen. Wir können eben nur eine solche Naturwissenschaft machen, die in unseren Kopf hin­einpaßt. Wenn wir uns Planetensysteme oder Moleküle denken, sind das also immer sol­che, die unserem Anschauungsermögen entsprechen, die also mit der euklidischen Geome­trie ver­träglich sind.

Man liest immer wieder, Gauß habe das Dreieck Hoher Hagen (bei Göttingen), Brocken (im Harz) und Inselsberg (im Thüringer Wald) vermessen, um zu sehen, ob seine Winkelsumme auch wirklich 1800 ist. Das ist wohl – was Gaußens Motive betrifft – eine Legende, wie so viele über Galilei und Newton. Die Messung hat er natürlich durchgeführt. Dazu äußerte sich der Philosoph Christoph Sigwart – auch Hermann Lotze hat sich ähnlich geäußert:

"Wenn man sich endlich darauf beruft, dass sich doch die Verhältnisse eines sphärischen oder pseudosphärischen Raums zum Teil wenigstens zur Anschauung bringen lassen, so geschieht das doch nur durch Überlegungen, wie Körper, die sich nach den Formeln richteten, welche jenen ausdrücken, sich in unserem Raume, für unsere Raumanschauung verändern müssten; diese wird also nicht durch eine andere ersetzt. Alles wirkliche Messen von Körper durch Körper aber belehrt uns nicht über die Natur des Raums, sondern über das Verhalten der Dimensionen der Körper im Raume zu einander und zu den Bedingungen unserer Wahrnehmung; in praxi hat sich noch niemand irre machen lassen, wenn eine trigonometrische Messung als Winkelsumme der Visierlinien zwischen drei Punkten mehr oder weniger als 180° ergab, oder wenn ein ferner vertikaler Gegenstand sich bei direkter Messung größer auswies als aus dem Sinus des Höhenwinkels folgte; statt Euklid zu korrigieren hat man die Voraussetzung korrigiert, dass das Licht sich geradlinig bewege." (Sigwart, Fußnote zu 80).

Die reine Anschauung war wohl für diese Philosophen noch eine uneinnehmbare Festung. Aber im Jahre 1868 änderte sich das, als es Beltrami gelang, im Rahmen der euklidischen Geometrie ein Modell für die hyperbolische von Bolyai und Lobatschewski zu konstruieren. Dieses Modell – später bekannt als das Beltrami-Klein-Modell – möchte ich Ihnen vorführen, ohne Sie dabei mit mathematischen Beweisen zu belästigen. Sie müssen mir nur einfach alles glauben, was ich sage.

Dieses Modell ist der Rammbock, mit dem die Kantische Festung der reinen Anschauung gestürmt wurde. Nicht erst Einstein im Jahre 1905, sondern Hermann Helmholtz (später geadelt als v. Helmholtz) hat das 1870 in seinem berühmten Vortrag vor dem Heidelberger Dozentenverein getan („Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome“). Nur haben nur wenige damals die Tragweite seiner Ausführungen begriffen. Die Zeit war dafür noch nicht reif. Deshalb musste später noch Einstein kommen, der dann wirklich nicht nur im Bereich der gedanklichen Möglichkeiten sondern der empirisch getesteten physikalischen Theorien einen zweiten Angriff unternahm.

Helmholtz hat schlüssig gezeigt, dass wir uns eine nicht-euklidische Welt vorstellen können und damit Kants These von der reinen Anschauung als Quelle der euklidischen Geometrie widerlegt. Ich möchte Sie dazu bringen, seine Argumente nachzuvollziehen.

2. Nichteuklidische Geometrien homogener Räume

Ich will nur Geometrien mit einem gleichmäßig gekrümmten Raum hier diskutieren. Alles andere wäre zu kompliziert. Wie stellen wir überhaupt eine Raumkrümmung fest? Nehmen wir zunächst eine uns allen bekannte gekrümmte Fläche, eine Kugel. Weil die Fläche nach außen gestülpt ist, ist die Winkelsumme der Kugeldreiecke größer als zwei rechte ( > 1800). Wir denken uns Dreiecke zwischen zwei Längengraden und dem Äquator auf dem Globus. Am Äquator haben wir dann zwei rechte Winkel. Der Winkel am Pol ist dann der Betrag, um den die Winkelsumme 1800 übersteigt. Vergleichen wir mehrere solche Dreiecke, sehen wir, dass ihre Fläche zu diesem Winkelüberschuss proportional ist.

(siehe Abb.2b )

Die Krümmung der Kugel ist überall dieselbe. Wenn wir nun eine Formel für den Betrag der Krümmung erraten wollen, könnten wir es mit

K = (a + b + g –1800)/F

Versuchen, wobei K die Krümmung ist, F die Fläche des Dreiecks und a, b, g seine Winkel. Tatsächlich zeigt eine genauere Untersuchung, dass das ein vernünftiger Ausdruck für die Flächenkrümmung ist.

Die Krümmung des Raumes wird dann durch die gleiche Formel definiert. Sie kann sowohl positiv wie die der Kugel als auch negativ wie die einer Sattelfläche sein. Denken Sie dabei im Augenblick an eine Fläche wie ein Pferdesattel.

Eine Sattelfläche mit überall gleich großer Krümmung ist die Rotationsfläche der Traktrix, der Treidelkuve, die ein Schiff beschreibt, dass von einer Lokomotive am Ufer getreidelt wird. Denken wir und ein Schiff, das von einer Lokomotive am Ufer am einem Seil gezogen wird

(Abb. 3)!

Das Ufer ist dabei eine Gerade g. Das Seil zieht dabei das Schiff immer näher an das Ufer heran. So entsteht die Treidelkurve. Bilden wir nur durch Rotation der Treidelkurve um die Gerade g eine Rotationsfläche, erhalten wir eine Fläche, die überall die gleiche negative Krüm­mung hat (siehe die letzte Abbildung):

Wir können nun drei verschiedene Geometrien unterscheiden, bei denen der Raum homogen und isotrop ist, d. h. bei denen alle Raumpunkte und Raumrichtungen gleichberechtigt sind:

1.      für K > 0 die sphärische Geometrie, bei der das 5. Postulat Euklids zwar gilt, dafür aber andere Axiome verletzt sind,

2.      für K = 0 die euklidische Geometrie,

3.      für K < 0 die hyperbolische Geometrie von Bolyai und Lobatschewski, bei der das 5. Postulat nicht gilt.

3. Die sphärische Geometrie

Diese Unterscheidung gilt gleichermaßen für zwei- und dreidimensionale Räume. Wie gewin­nen wir nun zunächst ein Modell der sphärischen Geometrie, das sich für drei Dimensionen verallgemeinern lässt? Dazu brauchen wir zunächst eine Projektion der Kugel auf die Ebene. Wir finden solche Kartenprojektionen im Vorspann vieler Atlanten beschrieben 

(Abb. 2a, Abb. 2b, Abb. 2c).

Man kann natürlich die Kugel nicht vollkommen ohne Änderungen auf eine Ebene abbilden. Es gibt flächentreue Projektionen, die wenigstens gleich große Flächen auf der Kugel auf gleich große Flächen der Ebene abbilden. Diese verzerren aber die Winkel. Dann gibt es winkeltreue Projektionen, bei denen gleich große Flächen verschieden groß abgebildet werden. Bei der Zentralprojektion werden Großkreise in Geraden abgebildet. Diese sind aber weder flächen–  noch winkeltreu.

Eine recht brauchbare winkeltreue Projektion ist die stereographische. Sie ist rotationssymmetrisch, hat ein Zentrum und der Maßstab der Landkarte, die durch die Abbildung erzeugt wird, ist dort am kleinsten und wächst mit zunehmenden Abstand vom Zentrum an. Diese Abbildung der Kugel eignet sich immerhin ganz gut zur Darstellung der Kugelgeome­trie, wenn wir sagen können, in welche Kurven die Großkreise der Kugel abgebildet werden, die ja das Analogon zu den Geraden der Ebene bilden. Wir suchen zunächst den Kreis um das Zentrum der Abbildung auf, der von dort den Abstand 900 hat. Ist das Zentrum ein Pol, dann ist dieser Kreis der Äquator. Die Bilder der Großkreise sind solche Kreise, die jenen Kreis in zwei entgegengesetzten Punkten schneiden.

Wenn wir nun die Kugelgeometrie durch eine stereographische Projektion interpretiert haben, können wir leicht zum dreidimensionalen Fall übergehen. Die Winkel sind auch hier wieder die gleichen wie im abgebildeten Original, wir haben also auch hier Winkeltreue. Im dreidimensionalen Fall tritt an Stelle des Kreises um das Zentrum eine Kugel im Abstand 900 und die Bilder der Großkreise sind dann Kreise, die besagte Kugel in zwei Antipoden schneiden. Wir können uns die dreidimensionale Kugelfläche im vierdimensionalen Raum nicht vorstellen, wohl aber die „Kartenprojektionen“ derselben auf den dreidimensionalen Raum. Das ist ihr großer Vorzug. Damit bekommen wir ein Modell der dreidimensionalen Kugelgeometrie.

Sind mir Winkel und die Bilder der Großkreise gegeben, kann ich dafür alle Axiome der Kugelgeometrie hinschreiben. Das 5. Postulat ist dabei nicht verletzt, dafür aber andere; aber darauf will ich hier nicht eingehen.. Es gibt auf der Kugel keine Parallelen und natürlich auch nicht in der stereographischen Projektion bei Verwendung der Bilder von Großkreisen für „Geraden“. Zwei beliebige Großkreise auf der Kugel schneiden sich immer irgendwo.

Auf diese Weise wird nun zunächst gezeigt – und das ist für die Mathematiker enorm wichtig – dass die dreidimensionale Kugelgeometrie widerspruchsfrei ist.

Wie steht es aber nun mit der Anschaulichkeit dieser Geometrie! Wir haben ja nur ein verzerrtes Bild derselben auf der Basis der euklidischen Geometrie gewonnen. Wird damit nicht letztlich doch Christoph Sigwart, den ich oben zitiert habe, gerechtfertigt, der sagt, dass wir uns schließlich alles nur im Rahmen der euklidischen Geometrie vorstellen können? Ich will diese Frage für die sphärische Geometrie heute Abend offen lassen und sie stattdessen nur für die hyperbolische Geometrie diskutieren. Dort geht das etwas einfacher.

Ich will von der sphärischen Geometrie nur eines festhalten: Auch wenn das stereographische Modell der dreidimensionalen Kugelgeometrie ein Zentrum hat, nämlich die Stelle, an der die Dinge jener Welt am wenigsten vergrößert erscheinen, so ist dieses Zentrum absolut willkürlich und die stereographische Projektion kann stets so gewählt werden, dass jeder beliebige andere Punkt ins Zentrum rückt. Ich werde diese Tatsache per Analogie auf den Fall der hyperbolischen Geometrie übertragen. Denn ich erspare Ihnen auf diese Weise den mathematischen Beweis dafür. Die einzelnen Punkte des Raumes sind geometrisch gleichwertig; man sagt, der Raum ist homogen. Auch die Raumrichtungen sind gleichwertig; hier spricht man von der Isotropie des Raumes. Das gilt alles für die sphärische, euklidische und die hyperbolische Geometrie gleichermaßen.

4. Hyperbolische Geometrie

Wir kommen nun zur Geometrie mit negativer Raumkrümmung. Im zweidimensionalen Fall ist das die Rotationsfläche der Traktrix, der Treidelkurve, von der oben bereits die Rede war. Diese Fläche kann man genau so wie die Kugeloberfläche auf mehrere ver­schie­dene Weisen auf die Ebene projizieren.

Für uns sind zwei verschiedene Projektionen wichtig:

1.      das Beltrami-Klein-Modell (im dreidimensionalen Fall auch „Beltramikugel“ genannt), das geradentreu ist, Geraden in Geraden abbildet, wie im Falle der sphärischen Geo­me­trie die Zentralprojektion,

2.      das kreisförmige (bzw. kugelförmige) Poincaré-Modell, das winkeltreu ist, genau wie im Falle der sphärischen Geometrie die stereographische Projektion.

Beide Modelle können sowohl im zweidimensionalen wie im dreidimensionalen Fall ange­wandt werden. Auch hier handelt es sich zunächst nur um euklidische Veranschau­lichungen der hyperbolischen Geometrie.

4a Das Poincaré-Modell

Beginnen wir mit dem Poincaré-Modell. Der hyperbolische Raum ist dabei im zweidimensio­na­len Fall auf eine Kreisscheibe und im dreidimensionalen Fall auf eine Kugel abgebildet. Die Ränder dieser Scheibe oder Kugel gehören nicht mehr zum Modell. Der Mathematiker sagt: Es handelt sich hier um offene Mengen.

Die „Geraden“ werden im Poincaré-Modell auf Kreisbögen abgebildet, die auf besagten Rän­dern senkrecht stehen. Das fünfte Postulat Euklids ist in dieser  Geometrie verletzt. In der Abb. 4a sehen wir, dass es zu der „Geraden“ VT  oder auch zu US durch den Punkt P unendlich viele Parallelen gibt, d. h. Geraden, die AB nicht schneiden. Da P in der Figur genau in den Mittelpunkt gelegt ist, sind letztere Parallelen in der Figur Geraden, die durch P laufen.

Ein Dreieck sieht dabei so aus

(Abb. 4b und Abb. 4c)

Das Dreieck wird durch gepunktelte Linien gebildet. Seine Fläche erscheint in den beiden Abbildungen in oranger Farbe. Die durchgezogenen Linien wollen wir für den Augenblick noch vergessen. Wir sehen sofort, dass die Winkel spitzer sind als im euklidischen Fall, das Dreieck also ver­mut­lich eine Winkelsumme hat, die kleiner ist als zwei rechte (< 1800). Sie werden sagen: das ist kein Kunststück; wenn man ein Dreieck durch Kreisbögen einschließt, statt durch Geraden, kann man die Winkel beliebig manipulieren. Es gibt aber trotzdem eine Gesetz­mäßigkeit, die ich schon erwähnt habe, nämlich, dass sich eine Fläche F definieren lässt, für die gilt:

K = (1800abg)/F

Wobei F nicht die Fläche im Modell, sondern im hyperbolischen Raum darstellt, so dass im Mo­dell die Flächen von kongruenten Figuren zum Rand des Modells hin immer kleiner werden.

Der hyperbolische Raum ist unendlich, obwohl die Beltramikugel endlich ist. Wie kann man diesen scheinbaren Widerspruch auflösen? Wir nehmen an, dass alle Körper, die vom Zen­trum der Beltramikugel zu ihrer Oberfläche bewegt werden, dabei kleiner werden. (Sie behal­ten natürlich so ihre hyperbolische Größe.) In der Nachbarschaft der Kugeloberfläche sieht das so aus:

(Abb. 5).

Ein Wanderer versucht, die Kugeloberfläche zu erreichen. Hat er die Hälfte des Abstandes zu dieser Oberfläche durchschritten, ist er dabei auch um die Hälfte kleiner geworden. Damit wer­den seine Schritte kürzer und er kommt entsprechend langsamer voran. Hat er von der ver­bleibenden Hälfte wieder die Hälfte durchschritten, ist er nur noch ein Viertel so groß, wie am Anfang. Geht das so weiter, wird er die Kugeloberfläche nie erreichen. So können wir ver­ste­hen, dass man einen unendlichen Raum in eine endliche Kugel abbilden kann.

Im hyperbolischen Raum können wir Parkettierungen, d. h. Pflasterungen einer Fläche mit einer oder mehreren Sorten untereinander kongruenter Figuren, durchführen, die im eukli­dischen unmöglich sind. Im euklidischen Raum können wir eine Fläche mit gleichseitigen Dreiecken, Quadraten oder Sechsecken pflastern. Mit Fünfecken ist das unmöglich. Letzteres geht aber gut auf einer Kugel. Wir erhalten so das Dodekaeder. Der Fußball beruht auch auf einer Parkettierung von Fünfecken und Sechsecken, die in der Ebene unmöglich ist.

Im Falle der hyperbolischen Geometrie gibt es nun wieder andere Möglichkeiten. Hier können etwas sieben gleichseitige Dreiecke zusammenstoßen. Der niederländische Maler Maurits C. Escher hat eine Parkettierung im hyperbolischen Raum versucht, die aus gleichseitigen Drei­ecken und Vierecken besteht:

Abb. 6.

4b Das Beltrami-Klein-Modell und seine empirische Deutung

Bisher sind wir nun noch immer nicht zur Beantwortung der Frage meines Vortrags gelangt: „Wie sieht es in einem hyperbolischen Raum aus?“ Dazu ist das kreisförmige Poincaré–Modell auch nicht so geeignet. Machen wir uns klar, worum es geht! Wenn wir über diese oder jene empirisch gegebene Geometrie reden wollen, hat das nur einen Sinn, wenn wir uns über die Beziehungen der physikalischen Gegenstände zum Raum verständigt haben. Ich fordere deshalb:

1.      Ungestörte Lichtstrahlen bewegen sich auf geraden Linien.

2.      Ungestörte feste Körper behalten bei Transport ihre Größe und ihre Form.

Durch diese Festlegung geben wir erst der Frage nach der empirischen Geltung der Geometrie ihren Sinn. (Viele Philosophen legen Wert darauf, dass gar nicht so ohne weiteres klar ist, was „ungestört“ heißt. Ich übergehe hier einfach ihre Einwände aus Zeitgründen und weil ich weiß, dass sie sich schließlich doch entkräften lassen.)

Es zeigt sich aber, dass es nicht so leicht ist, vom kreisförmigen Poincaré–Modell abzulesen, was ein Beobachter in einer hyperbolischen Welt sieht. Da die Lichtstrahlen dann auf kreisförmigen Bahnen laufen, wirkt der Raum dabei wie eine Linse mit für uns augenblicklich schwer abschätzbaren Folgen.

Wir wählen deshalb das andere Modell, das von Beltrami und Klein bzw. die Beltramikugel, bei dem die Geraden durch gerade Strecken dargestellt werden. Damit verlieren wir allerdings die Winkeltreue, die wir beim Poincaré–Modell hatten. Ich will die Beziehung beider Modelle durch eine Abbildung erläutern

(Abb. 4b und Abb. 4c).

Wir können den Zusammenhang beider Modelle dadurch herstellen, dass wir den Bogen UABV, der eine Gerade im Poincaré–Modell darstellt, durch die Sehne UA’B’V ersetzen. Diese Gerade ist dann die Darstellung derselben Geraden im Beltrami–Klein–Modell. Das Dreieck ABC wird dann zu dem Dreieck A’B’C’. Alles wird durch diese Änderung weiter nach außen in Rich­tung Kugeloberfläche verschoben.

Wir sehen uns nun zunächst einmal an, wie viele Parallelen es zu einer Geraden durch einen Punkt P sowohl im Beltrami–Klein–Modell als auch im Poincaré–Modell gibt (Abb. 4a).

Zur Geraden UV gibt es durch den Punkt P unendlich viele Parallelen. D. h. Geraden in der gleichen Ebene, die UV nicht schneiden oder berühren. Die Punkte außerhalb der Grenzen des Modells zählen ja nicht mit. Ich habe den Punkt P der Bequemlichkeit halber in das Zentrum des Modells gelegt. Wir erhalten  bei beiden Modellen natürlich das gleiche Resultat.

Jetzt sind wir auch mit dem Beltrami–Klein–Modell so weit vertraut, dass wir die entscheidende Frage beantworten können: Wie sieht es in einer hyperbolischen Welt aus? Wir setzen daher einen Beobachter in diese Welt und zwar ins Zentrum der Beltramikugel. Dort weichen die Verhältnisse noch recht wenig von den euklidischen ab. Die besonderen Eigenschaften der hyperbolischen Geometrie werden erst bei größeren räumlichen Abständen sichtbar. Außer­dem ist das Bild eines Gegenstandes im Zentrum nicht verzerrt. Die Lichtstrahlen laufen in der Beltramikugel auf Geraden, das heißt kurz und bündig:

In der hyperbolischen Welt sieht es so aus, als befände man sich im Zentrum einer Beltramikugel.

Das gilt auch für das beidäugige Sehen und die damit mögliche Abschätzung von Entfernungen. Der Rand der Beltramikugel erscheint in der Entfernung 900 = 1/K. Betrachten wir die Abb. 7!

 

Wir sehen darin den Beobachter, der einen Gegenstand mit seinen beiden Augen jeweils in etwas verschiedener Richtung sieht. Er schätzt die Entfernung nach der Größe des Winkels d. Dabei kommt dann heraus, dass er sich im Zentrum der Beltramikugel wähnt. Ist die Krüm­mung K hinreichend groß, kann er sogar das Ende der Welt in scheinbar endlicher Entfernung sehen. Die Gegenstände, die sich von ihm entfernen, werden dabei scheinbar schneller klei­ner, als das nach der euklidischen Perspektive zu erwarten wäre. Kommen sie ihm näher, schwellen sie dem entsprechend wieder an. Bewegt sich der Beobachter selbst in dieser Welt, scheint er stets im Zentrum der Beltramikugel zu bleiben. Wir erinnern uns, dass bei einer Pro­jektion einer Kugel jeder Punkt zum Mittelpunkt der projizierten Landkarte werden kann, das ist für die Modelle der hyperbolischen Geometrie genau so. So gilt bezüglich der Projek­tion eine Art von Relativitätsprinzip. Es gibt kein wahres Zentrum des hyperbolischen Rau­mes. Jeder Punkt ist mit jedem anderen gleichberechtigt. So ist es auch für das optische Bild des Beobachters egal, ob er sich gegenüber den Dingen bewegt, oder die Dinge sich ihm gegenüber.

Wenn Sie das alles begriffen haben, werden Sie auch in der Lage sein, nun Helmholtz zu ver­ste­­hen, was vermutlich viele seiner Zuhörer 1870 nicht getan haben. Lassen wir ihn hier zu Wort kommen! Er sagt von einem Beobachter, der sich in die hyperbolische Welt verirrt hat:

"Er würde die entferntesten Gegenstände dieses Raumes in endlicher Entfernung rings um sich herum zu erblic­ken glau­ben, nehmen wir an, in hundert Fuß Abstand. Gin­ge er aber auf diese entfernten Gegen­stände zu, so würden sie sich vor ihm dehnen, und zwar noch mehr nach der Tiefe, als nach der Fläche, hinter ihm aber würden sie sich zusammen­ziehen. Er würde erkennen, daß er nach dem Augen­maße falsch geur­teilt hat. Sähe er zwei gerade Li­nien, die sich nach seiner Schätzung mit einander  pa­­ral­lel bis auf diese Entfernung von 100 Fuß, wo ihm die Welt abgeschlossen erscheint, hinaus­ziehen, so wür­de er, ihnen nachgehend erkennen, daß sie bei dieser Deh­nung der Gegenstände, denen er sich nä­hert, ausein­an­der rücken, je mehr er an ihnen vorschreitet, hin­ter ihm dagegen würde ihr Ab­stand zu schwinden schei­nen, so daß sie ihm beim Vorschreiten immer diver­gent und immer entfernter von einander erscheinen wür­den. Zwei gerade Li­nien aber, die vom ersten Standpunk­te aus nach einem und demselben Punkte des Hintergrun­des in hundert Fuß Entfer­nung zu konvergieren scheinen, würden dies immer tun, so weit er ginge und er würde ihren Schnittpunkt nie erreichen." (v. Helmholtz 1921, S. 20f.)

Wir könnten nun einen Film drehen, der solche Erlebnisse darstellt, so wie kürzlich auf dem Physikertag ein Film vorgeführt wurde, der Reisen mit fast Lichtgeschwindigkeit schildert. Solche Filme sind allerdings nur dann erhellend, wenn man versteht, was sich da abspielt. Leider war es mir nicht möglich, Sie mit einem solchen Film über eine hyperbolische Welt zu beglücken.

Aber ich kann Ihnen zeigen, wie eine Eisenbahnschiene in dieser Welt aussieht, die sich schnur­gerade bis zu Horizont erstreckt. Dazu müssen wir zwei Linien zeichnen, die stets im gleichen Abstand voneinander laufen. Im euklidischen Raum sieht das so aus: Abb. 8a

Doch im hyperbolischen Raum erhalten wir ein anderes Bild: Abb. 8b

Mindestens eine von zwei Linien, die in einer Ebene mit gleich bleibendem Abstand nebeneinander herlaufen, kann keine Gerade sein. Zwei solche Linien werden, wenn die Gerade durch das Zentrum der Beltramikugel geht, durch Ellipsenbögen dargestellt. Betrachte ich eine Schiene, die sich schnurgerade in einer Ebene erstreckt, dann erscheint diese für den Betrachter nicht wie im euklidischen Raum als zwei Geraden, die sich in einem Punkt treffen, sondern als die Äste einer Hyperbel. Auch der Telefondraht, der neben der Eisenbahn herläuft, bildet den Ast einer Hyperbel. Generationen von Malern haben für den euklidischen Raum das perspektivische Zeichnen und Malen geübt. Dasselbe ist auch für den hyperbolischen Raum möglich, wenn auch etwas komplizierter als für den euklidischen. Damit ist dieser der Anschauung durchaus zugänglich.

5. Fazit

Ist damit nun die These von Kants reiner Anschauung widerlegt? Ich glaube ja: anschauliche Vorstellung ist die Vorwegnahme, die Antizipation möglicher Erlebnisse. So sah das bereits Helmholtz (Abb. 9):

"Unter dem viel gemissbrauchten Ausdrucke "sich [etwas] vorstellen" ... verstehe ich ...., dass man sich die Reihe der sinnlichen Eindrücke ausmalen könne, die man haben würde, wenn so etwas im einzelnen Fall vor sich ginge." (v. Helmholtz, S. 5)

Wir können uns solche Erlebnisse in nichteuklidischen Welten ausmalen. Damit hat Helm­holtz gezeigt, dass Kant nicht damit recht hatte, wenn er glaubte, unser Anschauungsvermö­gen zwänge uns eine euklidische Geometrie auf. Die Erschütterung der Kantschen Lehre war damit rein logisch gesehen erfolgt. Nur war die philosophische und wissenschaftliche Öffent­lichkeit damals noch nicht bereit, diese Konsequenz zu akzeptieren. Erst Einstein gelang es dann nachhaltig, Kant in Frage zu stellen.