Die sog. grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht.

Inhalt und Reichweite einer "gemeineuropäischen Grundrechtsfunktion".

Von Dr. Peter Szczekalla

Zusammenfassung in Thesen (Vierter Teil) *

- Deutsches Recht (Erster Teil) -

1.          In der Rechtsprechung des BVerfG ist die Schutzpflicht von der Weite des Eingriffsbegriffs abhängig. Trotz aktiven Handelns geht das BVerfG mitunter aufgrund einer staatlichen "Mitverantwortung" und eines bloßen Risikos für ein Grundrechtsgut von der Einschlägigkeit der Schutzpflicht aus. Auch werden an sich klare Abwehrrechtsfälle nicht selten in der typischen Schutzpflicht-Diktion entschieden. Gelegentlich wird die Einschlägigkeit von Abwehrrecht oder Schutzpflicht schließlich ganz offen gelassen.

2.          Im Grundsatz lässt sich aber festhalten, dass die Schutzpflicht nach Ansicht des BVerfG in all den Fällen einschlägig ist, in denen ein Grundrechtsgut durch nichtstaatliche "Gewalten" beeinträchtigt oder gefährdet wird. Die nichtstaatlichen Gewalten umfassen dabei sowohl Private als auch ausländische Staaten sowie unpersonale Gefahren, insbes. Naturkatastrophen. Es gilt der Grundsatz der Irrelevanz der Bedrohungsherkunft.

3.          Das BVerfG leitet die Schutzpflicht im Wesentlichen aus der objektivrechtlichen Seite der Grundrechte ab. Wortlautargumenten oder der staatstheoretischen Begründung ("Schutz für Gehorsam"-Formel) kommt daneben kein eigenständiges Gewicht zu. Auch die Menschenwürde-Garantie aus Art. 1 I 2 GG spielt in der Rechtsprechung des BVerfG letztlich keine eigenständige Rolle bei der Ableitung von Schutzpflichten; entgegen einigen kritischen Anmerkungen in der Literatur stellt sie jedenfalls nicht die schutzrechtliche "Basisnorm" dar.

4.          Der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich entnehmen, dass es von einer grundsätzlichen "Schutzpflichttauglichkeit" aller Freiheits- und sogar Gleichheitsgrundrechte sowie (nahezu) aller grundrechtsgleichen Rechte ausgeht. Entgegen einzelnen Stimmen in der Literatur gibt es im Grunde keine schutzpflicht-untauglichen Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte, mit der - einzigen - Ausnahme des Art. 103 II und III GG.

5.          In der Bundesrepublik Deutschland ist die Schutzpflicht grundsätzlich nicht nur gesetzes-, sondern auch kompetenziell mediatisiert: Bund und Ländern kommt in ihrem Aufgabenbereich eine jeweils eigenständige und voneinander getrennte Verantwortlichkeit zu, die nach Ansicht des BVerfG in Extremfällen indes durchbrochen werden kann. Trotz des Grundsatzes der kompetenziellen Mediatierung der Schutzpflicht lassen sich "Notkompetenzen" (des Bundes) im Einzelfall nicht ausschließen (inbes. bei überregional bedeutsamen Warnungen). Eine Durchbrechung der Sperrwirkung des Art. 72 I GG aus Gründen der grundrechtlichen Schutzpflichten ist aber grundsätzlich nicht anzunehmen.

6.          (Mittelbare) Drittwirkung und Schutzpflicht sind insoweit - partiell - identisch, als sie beide über das Medium des sog. einfachen Rechts "arbeiten" (grundrechtskonforme Auslegung). Soweit diese auch unpersonale Gefahren und das Verhalten ausländischer Staaten erfassen sowie (zu-) künftigen Generationen zugute kommen soll, unterscheidet sie sich von jener. Gleiches gilt, weil sie nicht nur den Gesetzesanwender (Gerichte oder Verwaltung), sondern auch den Gesetzgeber selbst trifft und weil sie nicht auf normative Schutzmittel beschränkt ist. Insgesamt erweist sich die Drittwirkung als Unterfall der Schutzpflicht ([hier sog.] Unterfallthese).

7.        Dem Untermaßverbot kommt keine eigenständige Bedeutung zu. Unter- und Übermaßverbot sind kongruent. In Schutzpflicht- wie in Abwehrrechtsfällen sind (die gleichen) Abwägungen unvermeidbar, weil es ohne Abwägung weder Vernunft noch Freiheit geben kann.

8.          Die Annahme eines Auseinanderfallens von Handlungs- und Kontrollnorm lässt sich mit den grundgesetzlichen Vorgaben durchaus vereinbaren. Sie hat u.a. den - überaus wichtigen - (auch psychologischen) Vorteil, dass sich der Gesetzgeber nicht von vornherein auf Evidenzerlebnisse beschränken kann und nur den offensichtlich erforderlichen, sondern den bestmöglichen Schutz gewähren muss.

9.          Eine Erosion des sog. einfachen Rechts durch grundrechtliche Schutzpflichten ist nicht zu befürchten: Rechtssicherer und gleichmäßiger (Art. 3 I GG) sowie zeitnaher Schutz bleibt auf dieses "einfache" Schutz-Recht und seine Dogmatik angewiesen; ihr kommt eine unentbehrliche Entlastungsfunktion für die tägliche Rechtspraxis zu.

- Die abwehrrechtliche Lösung (Erster Teil: B.II.4. und C.) -

10.        Die "Fundamentalkritik" an der Schutzpflicht-Rechtsprechung und -Lehre (durch v.a. Schwabe, Murswiek und Griller) ist im Wesentlichen berechtigt. Auf diese abwehrrechtlichen Lösungen, die aus Gewaltmonopol und Duldungspflicht sowie dem Nicht-Verbieten als (schwacher) Erlaubnis in den meisten Schutzpflicht-Konstellationen jeweils einen Eingriff in das Grundrecht als Abwehrrecht folgern, haben Rechtsprechung und sonstige Literatur bisher zwar nicht - angemessen - reagiert. Das beruht aber im Wesentlichen auf "Glaubensfragen" und (Be-) Wertungen, denen rational nur schwer beizukommen ist.

11.          Ein rechtsfreier Raum, der einer Deutung des Nicht-Verbietens als (schwacher) Erlaubnis und damit als rechtfertigungsbedürftiger, regelmäßig aber auch rechtfertigungsfähiger Eingriff in das Grundrecht als Abwehrrecht entgegenstehen könnte, ist nicht anzunehmen: Wenn der (Rechts-) Satz, dass alles erlaubt ist, was nicht verboten ist, allgemeine Anerkennung findet und auch aus grundrechtlichen Gründen geboten ist ([nur] gewährleistete, dem Staat vorgegebene Freiheit bzw. lückenloser Grundrechtsschutz), dann folgt daraus - nach den "Gesetzen der Logik" - an sich schon zwingend, dass bei Abwesenheit eines (gesetzlichen) Verbotes keine bloße Nicht-Regelung i.S. einer Abwesenheit jeglicher rechtlicher Determinierung des fraglichen Bereichs, sondern eine positive Regelung i.S. einer (zumindest schwachen) Erlaubnis vorliegt. Dieser korrespondiert eine rechtliche Duldungspflicht. Die formelle Zuordnung von Erlaubnis und Duldungspflicht zu einem bestimmten Rechtsgebiet ist für den abwehrrechtlichen Grundrechtsschutz materiell irrelevant.

12.         Die Heranziehung des sog. logischen bzw. deontischen (oder: Normen-) Quadrates als Hilfsmittel verdeutlicht, dass jedes beliebige menschliche Verhalten (im raum-zeitlichen Anwendungsbereich einer gegebenen Rechtsordnung) nur entweder verboten oder aber erlaubt sein kann. Etwas Drittes ist nicht denkbar. Menschliches Verhalten muss deshalb als durch Rechtsvorschriften geregelt gedacht werden.

13.         Der diplomatische Schutz bzw. Auslandsschutz stellt auch unter Zugrundelegung einer abwehrrechtlichen Lösung demgegenüber einen Fall einer "echten" Schutzpflicht dar. In vielen Fällen, in denen Handlungen des deutschen Staates in Rede stehen, die Gefahren für Grundrechtsgüter erhöhen (sog. Gefahrschaffungsgefahr), ist aber ohnehin das Abwehrrecht einschlägig. Keine Besonderheiten gelten insoweit auch für Auslieferung, Ausweisung und Abschiebung: Die Schutzpflicht hat hier "nichts zu suchen". Das ändert indes an der grundsätzlich eingeschränkten Kontrolldichte auch in diesen Fällen nichts. Der Auslandsschutz umfasst den Schutz von deutschen Staatsangehörigen bzw. juristischen Personen mit Sitz in Deutschland, aber auch den Schutz von Ausländern bzw. juristischen Personen mit Auslandssitz im In- und Ausland. Grundrechtsoptimierung ist nämlich immer auch eine Zielrichtung der allgemeinen Außenpolitik. Dass dabei den Belangen der konkreten Solidargemeinschaft "Bundesrepublik" ein - relativer - Vorrang zukommt und dass nicht jeder schutzsuchende Ausländer ein (definitives) Recht auf Zugang zum Bundesgebiet hat, ändert an diesem Grundsatz nichts.

14.         Der Schutz vor "Natur"-Katastrophen und der Generationenschutz stellen ebenfalls Anwendungsfälle einer "echten" Schutzpflicht dar.

- Gemeinschaftsrecht (Zweiter Teil) -

15.         Die Grundfreiheiten und die vertraglichen Diskriminierungsverbote sind echte Gemeinschaftsgrundrechte.

16.         Der EMRK kommt unter allen Rechtserkenntnisquellen für Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze vorrangige Bedeutung zu. Der EuGH ist gehalten, der Rechtsprechung des EuGHMR in Grundrechtsfragen zu folgen.

17.        Formell haben die allgemeinen Rechtsgrundsätze einen Rang zwischen Primär- und Sekundärrecht. Materiell kommt ihnen indes ein höherer "Wertrang", ein prinzipieller Gehalt i.S. eines Optimierungsgebotes zu.

18.         Die einem Bedürfnis nach gemeinschaftsgrundrechtlichen Schutzpflichten entgegenstehenden, denkbaren Gründe vermögen nicht zu überzeugen: Die Gemeinschaft war nie auf Wirtschaftsliberalisierung allein festgelegt, ist dies jedenfalls nach den vorgenommenen Kompetenzerweiterungen längst nicht mehr. Die Gemeinschaft weist keine "ökonomische Eindimensionalität" auf. Zudem wirken insbes. die Grundfreiheiten nicht nur (geographisch) freiheitserweiternd oder -fördernd, sondern auch potentiell freiheitsbedrohend. Dieser potentiellen Freiheitsbedrohung ist zumindest durch gemeinschaftsgrundrechtliche Schutzpflichten Rechnung zu tragen, will man insoweit eine Gefahrschaffungsgefahr und damit eine abwehrrechtliche Lösung ablehnen. Der ethisch entkleidete homo oeconomicus ist und war aber nie ein Leitbild der Gemeinschaft.

Eine ausschließliche Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für das "Wohl und Wehe" des Einzelnenkann schon aufgrund der grenzüberschreitenden Probleme, Risiken und Gefahren nicht angenommen werden: Vielmehr ist die Schutz-Gemeinschaft die (gemeinsame) Antwort der (bisherigen) Schutz-Staaten. Unschädlich ist, dass die Gemeinschaft keine Problemlösungskapazität für alle "weltumspannenden" Schutz-Aufgabenaufweist: Insoweit gilt ein Subsidiaritätsgrundsatz im Verhältnis internationaler/supranationaler Organisationen. Zudem wird durch die Gemeinschaft der zunächst mediatisierte Einfluss der Mitgliedstaaten in den weltweit tätigen Organisationen wieder potenziert.Ferner lassen Kompetenzübergänge und "Sperrwirkung" des (sekundären) Gemeinschaftsrechts die Alternativlosigkeit der Schutzpflicht-Übernahme durch die Gemeinschaft und der Annahme einer "geteilten" bzw. "gemeinschaftlich ausgeübten" Souveränität deutlich werden. Des Weiteren lässt sich auch eine Art "Garantenstellung" der Gemeinschaft durch ihre - risikoerhöhende - Grenzöffnung und Schaffung von Marktzutrittsberechtigungen annehmen. Daneben kann mittlerweile eine Verlagerung von Staats-Aufgaben auf die Gemeinschaft und eine Europäisierung der Staatsziel- oder -zweckerfüllung beobachtet werden.

Bei alledem bleibt die gemeinschaftsgrundrechtliche Schutzpflicht aber kompetenz-akzessorisch und wirkt gerade nicht kompetenz-generierend bzw. -attrahierend: Die rechtliche Möglichkeit der Schutzpflichterfüllung hängt von der bestehenden Kompetenzordnung ab.

19.         Es gibt ein - sogar dringendes - Bedürfnis nach gemeinschaftsgrundrechtlichen Schutzpflichten. Es hat sich als ein viel zu einseitiges Bild erwiesen, die Gemeinschaft ausschließlich als Grundrechtsgefährder zu apostrophieren: Sie ist vielmehr unverzichtbar, um - entsprechend ihren durchaus genuinen Aufgaben und Zuständigkeiten - diejenigen Schutz-Mechanismen zu schaffen und deren Funktionieren zu gewährleisten, die notwenig sind, um die grundrechtlichen Positionen (zunächst) europaweit vor Beeinträchtigungen insbes. durch andere private "Mächtigkeiten" zu bewahren.

20.         Trotz fehlendem Gewaltmonopol und fehlender (echter) Kriminalstrafgewalt der Gemeinschaft sind gemeinschaftsgrundrechtliche Schutzpflichten denkbar. Die Schutzpflicht ist zum einen nicht auf normativen Schutz allein angewiesen, sondern kann auch tatsächlich umgesetzt werden. Zum anderen besteht eine Anweisungs- oder Anordnungskompetenz der Gemeinschaft, bei deren Ausübung die Mitgliedstaaten Gemeinschaftsrecht u.U. auch (kern-) strafrechtlich durchzusetzen haben.

21.         Die Schutzpflicht für die Grundfreiheiten verlangt neben dem - besonders effektiven - präventiv-polizeilichen Schutz auch angemessene Strafverfolgungsmaßnahmen seitens der Mitgliedstaaten, was der Gerichtshof vollumfänglich kontrollieren kann. Ein Verzicht der Mitgliedstaaten auf ein polizeiliches Einschreiten ist (nur) nach Abwägung zwischen den verschiedenen Grundrechts- und Grundfreiheitspositionen möglich.

Die Grundfreiheiten schützen in ihrer Schutzfunktion auch schon vor Angst und Furcht, soweit diese auf nachvollziehbare Grundlagen gestützt ist. Ansonsten haben die Schutzpflicht-Adressaten unbegründete Ängste durch Aufklärung und Information zu zerstreuen.

Sobald ein Mitgliedstaat in irgendeiner seiner Gliederungen an einer der genannten Aktionen Privater in irgendeiner Weise beteiligt ist, sei es durch Genehmigung einer Demonstration, die zu unverhältnismäßigen Behinderungen führt (Brenner-Blockade), sei es durchversteckte oder offene Kooperation mit Demonstranten ("Beef Blockade"), führt dies zu seiner vollen grundfreiheitlichen abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit. Ein Rekurs auf Schutzpflichten ist in solchen Fällen nicht nötig.

22.         Der diplomatische und/oder konsularische Schutz stellt einen partiell primärrechtlich geregelten Fall einer auch grundrechtlichen Schutzpflicht dar. Adressaten sind sowohl die Mitgliedstaaten als auch - rechtsgrundsätzlich - die Gemeinschaft selbst. Begünstigt werden die Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sowie juristische Personen. Art. 8c S. 1 EGV (Art. 20 n.Z.) ist unmittelbar anwendbar und gewährt ein Recht auf diplomatischen Schutz. Bei rechtmäßiger Schutzversagung und entsprechender Schwere der Beeinträchtigung bzw. einem Sonderopfer besteht ein Entschädigungsanspruch; bei rechtswidriger Schutzversagung ist ein Schadensersatzanspruch gegeben. Dieser folgt für die Mitgliedstaaten aus dem Aufopferungsgedanken bzw. der Staatshaftung für Verletzung auch des primären Gemeinschaftsrechts, und für die Gemeinschaft jeweils aus Art. 215 II EGV (Art. 288 n.Z.), welcher einer Haftung auch für rechtmäßiges Verhalten jedenfalls nicht entgegensteht. Für die laufenden Beitrittsverhandlungen hat der diplomatische bzw. Auslandsschutz nur eine begrenzte Relevanz und politische Bedeutung: Die Bundesregierung kann sich gemeinschaftsrechtlich einer Aufnahme neuer Mitgliedstaaten ohne Lösung der Eigentumsfrage Vertriebener widersetzen, muss dies aber weder aus Gründen des Gemeinschafts- noch des nationalen noch des Rechts der EMRK. Von der Gemeinschaft selbst kann ein entsprechender Einsatz jedenfalls nicht definitiv verlangt werden.

- Recht der EMRK (rechtsgrundsätzlich), Zweiter Teil: B.V. -

23.       Schutzpflichten gibt es auch im Recht der EMRK ([zumindest] als [Bestandteil der] sog. positive[n] Pflichten). EuGHMR und KomMR haben schon früh entsprechende Pflichten aus zahlreichen Einzelgarantien abgleitet, sich dabei aber einer genauen Abgrenzung von positiven ([im Wesentlichen] Schutz-) und negativen Pflichten (Abwehrrechten) widersetzt, weil die Grenzen zwischen den beiden Pflichten nicht zu einer präzisen Definition führten. Der EuGHMR weigert sich bisher überdies, eine allgemeine Theorie positiver Pflichten zu entwickeln. Jedenfalls bestehe dann eine sehr enge Verbindung zwischen beiden Pflichten, wenn der Staat an bestimmten Vorgängen beteiligt sei, mithin eine Art Mitverantwortung vorliege. Und jedenfalls in jüngerer Zeit wird noch weniger Aufwand auf eine Unterscheidung verwendet, weil die anzuwendenden Prinzipien - weitgehend - ähnlich seien: In beiden Fällen müsse auf ein faires Gleichgewicht ("fair balance"/"juste équilibre") Rücksicht genommen werden, welches zwischen den widerstreitenden Interessen des Individuums und der Gemeinschaft als Ganzer herzustellen sei. Und in beiden Fällen genössen die Vertragsstaaten einen bestimmten Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum ("margin"). I.E. ist folglich jeweils eine umfassende Güter- und Interessenabwägung, eine "normale" Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen.

24.         Aus den EMRK-Garantien lässt sich ein Schutz vor (reinen) Naturkatastrophen durchaus ableiten.

25.         Auch eine diplomatische Schutzpflicht bzw. eine Pflicht zum Auslandsschutz kann den EMRK-Garantien entnommen werden.

26.         Die Kontrolldichte nach der EMRK ist variabel, wobei zwischen positiven und negativen Pflichten keine Unterschiede (mehr) gemacht werden. Grundsätzlich ist sie von der Intensität der Grundrechtsbetroffenheit abhängig.

27.         Eine abwehrrechtliche Lösung ist auch auf EMRK-Ebene möglich und wird z.T. der Sache nach sogar verfolgt. Die dagegen vorgebrachten besonderen völkerrechtlichen Argumente (insbes. ihre Unvereinbarkeit mit dem Recht der Staatenverantwortlichkeit) vermögen jedenfalls nicht zu überzeugen (keine Übertragbarkeit des [allgemeinen] Rechts der Staatenverantwortlichkeit auf spezielle Menschenrechtsverträge mit eigenständigen Durchsetzungsmechanismen). Durchgesetzt hat sich diese Lösung im Rahmen der EMRK erst recht (noch) nicht.

28.         Eine Drittwirkung der Konventions-Garantien ist abzulehnen. Statt dessen ist ganz auf die Schutzpflicht abzustellen ([hier sog.] Aufgehungsthese).

- Recht der Mitgliedstaaten (rechtsgrundsätzlich), Zweiter Teil: B.VI. -

29.       Ansätze für Schutzpflichten finden sich auch in einigen ausgewählten und aussagekräftigen mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen. Jedenfalls zusammen mit den aus der Rechtserkenntnisquelle EMRK gewonnenen Erkenntnissen, v.a. aber zusammen mit dem deutschen Modell reichen sie aus, um gemeinschaftsgrundrechtliche Schutzpflichten als allgemeine Rechtsgrundsätze annehmen zu können. Das lässt sich anhand einer Untersuchung von Ländergruppen und schutzpflichtträchtigen Problemlagen verdeutlichen:

30.       Österreich ist ein besonders gutes Beispiel für den "Siegeszug der Wertordnung" durch ganz Europa, weil in diesem Mitgliedstaat nach anfänglicher rigoroser Ablehnung durch den östVfGH und darauf folgendem längeren Zögern mittlerweile eine fast schon übereifrige Übernahme von aus dem objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte abgeleiteten Schutzpflichten in die eigene Verfassungsdogmatik erfolgt ist.

31.       Irland stellt v.a. deshalb eine besonders gut geeignete Modellrechtsordnung für die Annahme einer gemeineuropäischen Schutzpflicht-Tradition dar, weil sich der Verfassung selbst ausdrückliche Schutzpflichten entnehmen lassen. Auch ein Wertordnungsdenken ist der irischen Verfassungsinterpretation nicht fremd.

32.      Frankreich kennt ebenfalls Schutzpflichten ("obligations positives"): Zwar ist die ausdrücklich gewährleistete "Sicherheit" in Art. 2 S. 2 MRE nach h.A. ebenso unergiebig wie die in Art. 5 S. 1 EMRK. Insbes. die Annahme des frzCC, dass der Pluralismus einen Verfassungswert darstelle, welcher mit anderen Verfassungswerten abzuwägen sei, sowie die objektivrechtliche Interpretation der Freiheit der (audiovisuellen) Kommunikation belegen aber die Anerkennung von Schutzpflichten in diesem Mitgliedstaat. Zudem stellen Schutzpflichten auch im Hinblick auf Leben und Gesundheit einen festen Bestandteil der französischen Verfassungsrechtsprechung dar. Subjektivierungs- und Durchsetzungsprobleme stehen dem nicht entgegen.

33.       Schließlich weist selbst die Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs trotz seiner - noch - bestehenden Sonderstellung (keine zusammenhängend geschriebene Verfassung mit ausführlichem Grundrechtskatalog) zumindest der Sache nach Schutzpflichtgehalte auf. Der erforderliche Schutz wird hier seit jeher durch das "einfache" Recht (Statutes und common law) bewerkstelligt, so dass schon von daher ein schutzrechtliches Problembewusstsein fehlen kann.

34.      Unabhängig von der (Einzel-) Untersuchung weiterer Länder macht ein Blick auf die schutzpflichtträchtigen - tatsächlichen und rechtlichen - Problemlagen (Abtreibung, Umweltschutz, Terrorismus, diplomatischer bzw. Auslandsschutz, Pluralismus, Pönalisierungspflichten, Schutzpflichten aus dem Gleichheitssatz) ein gemeinsames Schutzpflichtdenken der Mitgliedstaaten deutlich. Das ungeborene Leben wird jedenfalls in allen Mitgliedstaaten in irgendeiner Weise geschützt. Im Hinblick auf diesbezügliche Pönalisierungspflichten haben die beiden insoweit strengsten Rechtsordnungen, die irische und die deutsche, mittlerweile zu differenzierenden Lösungen gefunden.

35.         In allen Mitgliedstaaten besteht jedenfalls im Hinblick auf die Schutzpflicht des Gesetzgebers ein Durchsetzungsproblem. Geht man davon aus, dass es dabei jeweils um ein (verfassungs-) gerichtlich zu sanktionierendes gesetzgeberisches Unterlassen geht, erweist sich das geltende (Verfassungs-) Prozessrecht als grundsätzlich untauglich, den Gesetzgeber rechtsverbindlich zur Erfüllung seiner Pflicht anzuhalten, weil (Verfassungs-) Gerichte regelmäßig nur kassieren, nicht aber selbst legeferieren können. Gleichwohl gibt es einige, wenn auch unvollkommene Möglichkeiten des Rechtsschutzes, etwa die "kreative" Aufhebung einer konnexen Regelung und die Sanktionierung des gesetzgeberischen Fehlverhaltens über das Staatshaftungsrecht. In Ausnahmefällen ist es auch denkbar, dass eine Norm, die zu einer Schutz-Verschlechterung führt, kassiert wird. Letzten Endes bleiben auch noch Appell-Entscheidungen der zuständigen Gerichte an den Gesetzgeber.

- Ergebnisse zum Gemeinschaftsrecht (Zweiter Teil: C.) -

36.        Mittlerweile lässt sich von einem Siegeszug der "objektiven Wertordnung" in oder durch ganz Europa sprechen. "Wertordnung" heißt dabei nicht Rangordnung i.S. abstrakter Vorrangrelationen, sondern meint ein System nur relativer Vorrangrelationen, innerhalb dessen Konflikte durch Abwägung im Einzelfall aufzulösen sind. Statt von "Werten" lässt sich ohne weiteres von "Prinzipien", also von Optimierungsgeboten in Bezug auf das rechtlich und tatsächlich Mögliche, sprechen. Mit diesem Siegeszug ist eine Anerkennung der objektivrechtlichen Funktionen von Grundrechten verbunden. Diese objektivrechtlichen Funktionen können wiederum Grundlage für positive bzw. Schutzpflichten sein.

37.         Die Schutzpflicht stellt heute ein "europäisches Gemeingut", eine gemeineuropäische Grundrechtsfunktion dar.

38.      Gleichwohl bleibt auch im und für das Gemeinschaftsrecht eine weitgehende abwehrrechtliche Lösung möglich. Nur natürliche Gefahren, der Generationenschutz sowie das Verhalten von Drittstaaten bleiben der Schutzpflicht vorbehalten.

- Praktische Folgerungen (Dritter Teil) -

39.        Mit zunehmender Regelungsintensität bzw. Regelungsdichte bei gleichzei­tiger und inso­fern kontrafaktischer Dis­kussion um Deregulierung sowohl auf mitglied­staatlicher als auch auf ge­meinschaftlicher Ebene werden Abgrenzungen zwi­schen Schutz-Gemeinschaft und Schutz-Staat immer wichti­ger: Dabei gilt es zum einen, mögli­cherweise in ih­ren kumulativen Wir­kungen (gemeinschafts-) grundrechts­verletzende Überre­gulierungen zu vermeiden, die aus ei­ner Kon­kurrenz von Schutz-Gemeinschaft und Schutz-Staat resultieren könnten. Zum ande­ren sind Substanzverlu­ste auszu­schließen, welche sich dar­aus ergeben können, dass sich nie­mand mehr ver­antwortlich fühlt und eine bestimmte Schutzmaßnahme zwischen den beiden genann­ten Ebenen gleichsam hin- und hergeschoben wird. Schließlich sind unüber­sichtliche parallele Schutzrege­lungen zu vermei­den. Im Einzelnen ist dabei von gemeinsa­men und ge­teilten Verantwort­lichkeiten auszugehen, wo­bei die jeweiligen Kompetenznormen als auch formelle Prinzipien zu berücksichtigen sind und wobei von der Einsicht auszugehen ist, dass sowohl Gemeinschaft als auch Mitgliedstaaten in all ihren Gliederungen und Funktionen dem Grunde nach (gemeinschafts-) grundrechtliche Schutzpflicht-Adressaten sind - die mitglied­staatlichen Gerichte und Verwaltungsbehörden insoweit als funktionale Gemeinschaftsge­richte und -be­hörden.

40.        Grund und - grundsätzliche - Grenze für die Schutzpflicht ist jedenfalls die rechtli­che Mög­lichkeit zum Schutz: Ist primär- oder sekundärrechtlich der Mitglied­staat bspw. für die Marktrück­nahme gefährlicher Produkte oder für diesbezügliche War­nungen zuständig, ist es der Kom­mission im Grundsatz verwehrt, entspre­chende Schutz­tätigkeiten zu entfalten.

41.         Daneben bleibt eine Art Reservefunktion bzw. Garantenstellung der Gemeinschaft denkbar.

42.         Die Kommission hat den den Mitgliedstaaten obliegenden Vollzug schutzpflichtrelevanter Gemeinschaftsmaßnahmen als eigenständige Schutzpflicht-Adressatin zu kontrollieren.

43.         In Ausnahmefällen besteht trotz abschließender Normierung eines Sachbereichs durch die Gemeinschaft mit Sperrwirkung eine Notkompetenz der Mitgliedstaaten in Anlehnung an die Sachwalter-Rechtsprechung des EuGH.

44.         Die Einhaltung der Kompetenzordnung als formelles Prinzip ist mit der Effektivität des Schutzes eines Grundrechtsgutes als materiellem Prinzip in Ausgleich zu bringen. Dieser Ausgleich findet in einem "Mehrebenenmodell öffentlicher Aufgabenwahrnehmung und Kompetenz" statt, in dem Staats- sowie Gemeinschaftsaufgaben auf derjenigen Ebene grundrechtskonform zu erfüllen sind, wo es angemessen, wo ein wirklich wirksames Handeln möglich ist. Die Schaffung eines solchen Modells ist grundsätzlich Aufgabe der Mitgliedstaaten bei der Setzung von Primär- und der Gemeinschaft beim Erlass von Sekundärrecht. Dieser Aufgabe sind die Beteiligten bisher auch nachgekommen - gravierende Schutz-Lücken sind jedenfalls nicht erkennbar. Neu auftretende oder als solche neu erkannte Unzulänglichkeiten sind grundsätzlich im Wege einer Vertragsänderung bzw. der Nachbesserung von Sekundärrecht zu beheben. Das Mehrebenenmodell kann als Auslegungsgrundsatz für die entsprechende Schutz-Effektivität sorgen.

45.         Eine unmittelbare horizontale Richtlinien-Wirkung ist nicht aus Gründen der (gemeinschafts-) grundrechtlichen Schutzpflicht geboten. Die unmittelbare horizontale Wirkung scheitert letztlich am besonderen Normengefüge des Art. 249 EGV (ex 189). Geboten ist allein eine - in den Grenzen des Wortlauts mögliche - richtlinien- und damit auch schutzpflichtkonforme Auslegung des nationalen Rechts. Dabei kann die Schutzfunktion weiter zur Vollzugseffektuierung umgesetzten Richtlinienrechts eingesetzt werden.

46.         Der Schutzpflichtgedanke lässt sich nicht zur Ableitung eines gemeinschaftlichen Rechtsschutzanspruchs gegen (gemeinschafts-) grundrechtsgefährdende Mitgliedstaaten heranziehen. Die Mitgliedstaaten sind hier bereits an die Gemeinschaftsgrundrechte als Abwehrrechte gebunden. Der sekundäre Schutz gegen (gemeinschafts-) grundrechtsbeeinträchtigende private Dritte ist im Rahmen ihrer Kompetenzen durch Mitgliedstaaten und Gemeinschaft zu bewirken.

47.         Beim tertiären Schutz (Gemeinschafts- und Staatshaftung) kommt eine Haftung aus Gründen einer Schutzversagung nur bei einer entsprechenden Kompetenz zur Gewährung von Schutz in Betracht. Für den Fall, dass die Gemeinschaft (insbes. die Kommission) zur Überwachung der Mitgliedstaaten verpflichtet ist, lässt sich aber auch an eine Art Gesamtschuld denken, wenn in beiden Beziehungen Schutz-Fehler begangen werden. Letztlich besteht immer eine Residualverantwortlichkeit und -haftung der Mitgliedstaaten (nach der Staatshaftungsdoktrin und nach nationalen Rechtssätzen). Eine Vertragsverletzung besteht ungeachtet einer Schadensersatz- oder Entschädigungszahlung fort.

48.         Die Rechtsfigur des diplomatischen Schutzes kann nicht für den Fall handhabbar gemacht werden, dass die Gemeinschaft bestimmte grundrechtsverletzende Rechtsakte erlässt oder grundrechtsgebotene unterlässt. Zum einen gilt hier die - wenn auch gemeinschaftsrechtlich modifizierte - normale Bindung der Mitgliedstaaten an ihre Grundrechte in ihrer jeweiligen Funktion. Zum anderen stehen den Mitgliedstaaten die Rechtsbehelfe des Gemeinschaftsrechts zur Verfügung, mit denen die Frage der Grundrechtsverletzung vor dem EuGH geklärt werden kann.

49.        Letzteres gilt auch für die Frage, ob die Mitgliedstaaten zugunsten ihrer eigenen Staatsangehörigen gegen gemeinschafts(grund)rechtswidriges Verhalten anderer Mitgliedstaaten diplomatischen Schutz ausüben können oder sogar müssen. Und auch hier ist der "Störer" an die Gemeinschaftsgrundrechte in ihrer jeweiligen Funktion gebunden.

50.        Schutzpflichten der Mitgliedstaaten brauchen gegen die Inländerdiskriminierung nicht ins Feld geführt zu werden: Da es nicht um ein Unterlassen, sondern um ein positives Tun, nämlich das In-Geltung-Halten einer nationalen Norm geht, ist - eindeutig - die Abwehrfunktion der Grundrechte einschlägig.



*        Diese 50 Thesen lagen der Disputatio vom 11.02.2000 (Prüfungskommission: Prof. Dres. Theodor Baums [Vorsitz], Hans-Werner Rengeling und Albrecht Weber) zu Grunde. In der Druckfassung (Verlag Duncker & Humblot, Berlin, Schriften zum Europäischen Recht) wird die Zusammenfassung in insgesamt 150 Thesen "ausbuchstabiert" (dort auch mit genauen Textverweisen und Rückbezügen innerhalb der Thesen).


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